Kitzbühel Das Vertical Up auf der Streif

Von Johanna Rüdiger

Ohne die Stöcke wäre ich wohl verloren. Mit aller Kraft stoße ich sie in den Hang und ziehe mich keuchend daran hoch. Der Schnee knistert unter der Sohle, ich setze einen Fuß vor den anderen, es geht höher, immer höher. Einfach hatte ich mir diesen Wettbewerb nicht vorgestellt - aber auch nicht so schwierig.

Kitzbühel | Das Vertical Up auf der Streif

Ich bin angetreten, um eine der gefährlichsten Abfahrtsstrecken der Welt zu bezwingen: die Streif in Kitzbühel. Beim Vertical Up wird die Piste jedoch in umgekehrter Richtung gemeistert. Statt auf Skiern halsbrecherisch ins Tal zu rasen, geht es mit Schneeschuhen, Spikes oder Tourenskiern den Berg hinauf. Die harten Fakten: mehr als 3,3 Kilometer, 860 Höhenmeter, die steilsten Stellen mit einer Neigung von 85 Prozent, und das auch noch nachts.

Neben der Speed-Klasse, in der Spitzensportler um den Sieg ringen, gibt es noch eine zweite Kategorie, die Rucksack-Klasse. Das klang für mich machbar. Zu Hause jedenfalls, auf dem flachen Land.

Jetzt, hier in Kitzbühel, sieht das Ganze etwas anders aus. Die Reaktionen der Einheimischen, denen ich von meiner Teilnahme erzähle, fallen eindeutig aus: «Bist du wahnsinnig?», fragt zum Beispiel Jürgen Stelzhammer vom «Hallerwirt». In seinem Restaurant verspeist der fünffache Streif-Sieger Didier Cuche gerne ein Wiener Schnitzel. Stelzhammer bringt einen Teller Kaiserschmarrn. «Holzfäller-Essen, das wirst du morgen brauchen», sagt er. Im Skiverleih fragt man mich ehrfürchtig, wie lange ich denn schon im Training sei. «Bisschen joggen, bisschen Yoga», murmele ich. Und ernte entsetzte Blicke.

Was ist so beängstigend an der Streif, auf der im Januar 2017 das nunmehr 77. Hahnenkamm-Rennen ausgetragen wird? Das sehe ich bei der Streckenbegutachtung. An den steilsten Stellen wie der Hausbergkante bleibe ich stehen und gucke schaudernd in die Tiefe: Fast senkrecht geht es bergab, Buckelpiste pur. Hier stürzten beim letzten Rennen drei Skiläufer, der Wettbewerb wurde deshalb tatsächlich abgebrochen. Die Unfälle lösten - wieder mal - eine hitzige Debatte aus: Wann ist eine Piste noch legendär, wann einfach nur zu gefährlich?

Ich weiche auf die Familienstreif aus, die sichere Alternative. Dort werden die allersteilsten Stellen umfahren. Auch beim Vertical Up können Teilnehmer der Rucksack-Klasse zwischen der Familienstreif und der Original-Rennstrecke wählen.

Da taucht plötzlich der erste Vertical Upper auf. Zielstrebig stapft er mit Trekking-Schuhen und Spikes die Piste hoch - ein letzter Streckencheck. «Und, wie lange hast du schon trainiert?», frage ich. «Ach, nur die letzten Wochen ein bisschen, im vergangenen Jahr habe ich zum ersten Mal mitgemacht, es war total lässig», sagt der 41-Jährige, der sich nur als Christian vorstellt. Vielleicht ist das Rennen auch für mich zu schaffen.

Abends im Kongresszentrum bei der Abholung der Startnummer schwindet die Zuversicht wieder. Drahtige Männer, so weit das Augen reicht, viele Triathlontrikots, dazwischen einige nicht minder drahtige Frauen. Ganz schön einschüchternd. Der sympathische Kitzbüheler Harald Ziegler, 62, ist ebenfalls für die Rucksack-Klasse angemeldet. «Du schaffst das schon», beruhigt er mich - bevor er erzählt, dass er im Sommer gerne die Streif hochjoggt. Vor dem Frühstück. Na toll.

Der Startschuss fällt abends um 18.30 Uhr. Knapp 1000 Teilnehmer drängen den Berg hinauf. Schon nach den ersten 50 Metern fange ich an, jämmerlich zu schnaufen. Bereits am ersten Hang scheint es vorbei zu sein. Der rechte Schneeschuh rutscht zur Seite weg. Ich versuche, mich festzukrallen, doch vergebens, ich gerate ins Schlingern. Dann erlischt auch noch die Stirnlampe am Helm. Doch plötzlich packt mich ein starker Arm von hinten. Harald, mein Mitstreiter. «Die Krallen ausfahren und geradeaus weiter», brüllt er, während ich die Spikes meiner Schneeschuhe gehorsam ins Eis stemme.

Und es geht tatsächlich weiter. Irgendwie. Inzwischen bin ich die Letzte. Harald hat Mitleid mit mir und weicht nicht von meiner Seite. «Immer nur bis zur nächsten Kurve denken, im Steilen schön auf die Stöcke lehnen», ruft er. Ab und zu bleiben wir stehen. Er, um die funkelnden Sterne und den Blick auf die leuchtenden Häuser im Tal zu genießen. Ich, um nach Luft zu schnappen.

Jetzt kommt es nur noch auf Hartnäckigkeit an. Dann plötzlich: der allerletzte Hang. Noch einmal geht es steil hinauf. «Endlich, ich war noch nie so froh, die allerletzte Teilnehmerin zu sehen», frotzelt der Vertical-Up-Moderator über die Lautsprecher. «Für dich spielen wir als Zieleinlauf «We are the Champions».» Doch ich krieche so langsam hoch und rutsche immer wieder ab, dass sie tatsächlich noch ein zweites Lied spielen müssen. Mir ist das egal, hysterisch lachend taumle ich ins Ziel. Meine Zeit: 2 Stunden und 41 Minuten.

Der Gewinner, der kurze Zeit später unten im Tal auf dem Siegertreppchen steht, brauchte nur 30 Minuten und 49 Sekunden. Er kommt mir verdammt bekannt vor. Ist das nicht...? Ja richtig, es ist Christian, der mir bei der Probeabfahrt auf der Piste begegnete und das Rennen «total lässig» fand! Er ist nicht nur heutiger und Vorjahresgewinner, sondern auch eine österreichische Legende: Christian Hoffmann, Olympia-Sieger im Langlauf.

Als offiziell allerletzte Zieleinläuferin darf auch ich auf die Bühne und mir einen Trostpreis abholen: Der Kitzbüheler Bürgermeister hängt mir feierlich einen Kranz mit Würsten um den Hals. Doch die anderen 1000 Teilnehmer jubeln anerkennend. Kein Spott, sondern Respekt. Die Streif von unten nach oben zu bezwingen, ist eine Leistung. Aufs Gewinnen kommt es dabei gar nicht an. dpa

Vertical Up in Kitzbühel

Termin: Der 7. Streif Vertical Up findet am 25. Februar 2017 statt. Teilnahmegebühr in der Rucksack-Klasse: 45 Euro. Die Pflichtausrüstung ist Helm, Stirnlampe und Rucksack. Ansonsten ist alles erlaubt: etwa Skistöcke, Tourenski, Langlaufski, Laufschuhe mit Spikes, Steigeisen oder Schneeschuhe (www.vertical-up.com/de).

Anreise: Kitzbühel ist von München aus mit der Bahn in rund zweieinhalb Stunden zu erreichen. Von den Flughäfen München, Salzburg oder Innsbruck bringen Airport-Shuttles Gäste in die Stadt.

Übernachtung: Mit vier Fünf-Sterne-Hotels gilt Kitzbühel als Luxusort. Es gibt aber auch zahlreiche günstigere Unterkünfte: 22 Drei-Sterne-Gasthöfe, 32 Ferienwohnungen oder Ferienhäuser und rund 50 Privatquartiere, teilweise mit Bauernhof. Eine Übernachtung beispielsweise im Bauernhof kostet pro Person ab 25 Euro.

Informationen: Kitzbühel Tourismus, Hinterstadt 18, 6370 Kitzbühel (Tel.: 0043/5356 66660, E-Mail: info@kitzbuehel.com, www.kitzbuehel.com).